Volkstrauertag 2023 - Ansprache des Bürgermeisters Jonas Breig
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
ich begrüße Sie herzlich zu unserer Gedenkveranstaltung zum Volkstrauer 2023 und bedanke mich, dass Sie sich heute die Zeit dafür nehmen.
Krieg in Europa, kenternde Flüchtlingsboote, ein überhitzter Planet - Hiobsbotschaften wie diese dominieren die Nachrichten und lassen uns oft überfordert zurück.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, der erneut eskalierte Nahost-Konflikt, welcher sich zu einer humanitären Krise entwickelt hat, Auseinandersetzungen im Sudan, Bürgerkrieg in Syrien, - das sind nur ein paar Beispiele für die aktuellen gewalttätigen Konflikte auf der Welt.
Jeden Tag erreichen uns neue Nachrichten aus Krisengebieten, jeden Tag Tausende weitere Tote, jeden Tag weiteres Leid und jeden Tag das Gefühl, dass sich die Gewaltspirale immer nur in eine Richtung dreht: aufwärts.
Und als wäre das nicht genug steht die Menschheit mit der Klimakrise vor einer der größten Herausforderungen in ihrer Geschichte.
Die Welt scheint eine besonders unruhige Phase zu erleben.
Alles nur ein Gefühl?
Leider nein.
Wenn wir uns die globale Entwicklung anschauen, dann nehmen die gewalttätigen Konflikte in der jüngeren Vergangenheit tatsächlich zu. Das gilt auch für die Anzahl der Opfer.
Das Problem ist aber nicht nur die bloße Zahl an Krisen und Konflikten, sondern auch deren Gleichzeitigkeit. Wir befinden uns in einer sogenannten Polykrise, also mehreren großen Krisen zur gleichen Zeit, welche sich gegenseitig bedingen.
Hinzukommt der jüngste Trend zur Internationalisierung von Konflikten, also, dass sich vermehrt Länder in die Konflikte anderer Länder einmischen. Das führt dazu, dass Konflikte länger und blutiger werden und auch schwieriger beizulegen sind.
Die Wissenschaft bestätigt es leider: Nicht nur die Zahl der Konflikte nimmt also zu, sondern auch deren Dauer.
Es stellt sich die große Frage, wie wir diese Gewaltspirale beenden können? Wie können wir wieder zu friedlicheren Zeiten gelangen, damit wir als Weltgemeinschaft die langfristigen und latenten Krisen wie etwa Ernährungssicherheit, Klimakrise, Migration oder Energiesicherheit wieder stärker in den Fokus rücken können. Denn diese verlangen nach gemeinsamen Antworten.
Sicherlich werde ich Ihnen diese Frage heute nicht beantworten können. Das maße ich mir nicht an. Doch wir können heute an diesem Mahntag für Frieden einen Blick in die Vergangenheit werfen, aus dieser lernen und vielleicht Lösungsansätze finden.
Europa war über 2000 Jahre ein Kontinent der Kriege. Noch im 20. Jahrhundert starben im Ersten Weltkrieg 17 Millionen und im Zweiten Weltkrieg mindestens 55 Millionen Menschen. Und heute leben über eine halbe Milliarde Europäer in Frieden und Freiheit. Die 74 Friedensjahre in den Staaten der Europäischen Union seit 1945 sind die längste, ununterbrochen andauernde Friedensperiode in Europa.
Wie gelang dieses außerordentliche Friedensprojekt in Europa?
Die europäische Idee wurde 1950 vom französischen Außenminister Robert Schuman formuliert. Die europäischen Staaten sollten wirtschaftlich so stark zu einer Gemeinschaft im Dienste des Friedens verbunden werden, dass Kriege zwischen ihnen nicht mehr möglich sein würden. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahre 1952 war der erste von vielen Schritten europäischer Integration.
Kern dieses Friedensprojektes war die deutsch-französische Versöhnung. Der Grundbaustein hierfür ist der Élysée-Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich.
Zustande kamen der Élysée-Vertrag und die darin beschriebene Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich keine 18 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine bemerkenswerte Entwicklung, lag doch ein Jahrhundert voller Feindschaft und schrecklicher Kriege hinter den beiden „Erbfeinden“.
Dieser Vertrag ist in diesem Jahr im Januar 60 Jahre alt geworden.
Mit dem Élysée-Vertrag setzten Bundeskanzler Konrad Adenauer und Frankreichs Präsident Charles de Gaulle einen Meilenstein in der Geschichte Europas.
Dieser Vertrag besiegelt das unwiderrufliche Bekenntnis von Deutschland und Frankreich zur Versöhnung und bekräftigt den Willen eine einzigartige und beispielhafte Beziehung zu entwickeln.
Dieser Vertrag fördert und erleichtert die Annäherung der Regierungen und der Menschen beider Länder durch eine in dieser Intensität nie dagewesene institutionelle Zusammenarbeit und durch die Einbindung der Zivilgesellschaften beider Länder.
So war es für die Unterzeichner wichtig, dass der Vertrag nicht nur ein Abkommen zwischen Staatschefs bleibt, sondern die Bürger der beiden Länder miteinbezogen werden, miteinander sprechen und sich so gegenseitig kennen und schätzen lernen.
Zu den Erfolgen des Vertrags zählt die starke Annäherung beider Völker. Konkretisiert wurde diese Freundschaft durch die Unterzeichnung von über 2300 Städte- und Gemeindepartnerschaften sowie durch die Schaffung von Austauschprogrammen für Kinder und Jugendliche beider Nationen.
Mit dem Élysée-Vertrag, der ganz im Zeichen der Aussöhnung und Begegnung stand, wurde die deutsch-französische Freundschaft besiegelt. Gleichzeitig legten Adenauer und de Gaulle das Fundament für die weitere europäische Integration. Die Deutsch-Französische Freundschaft gilt heute noch als Motor der Europäischen Integration.
Über 70 Jahre Frieden in Europa – das erfolgreichste Produkt der Europäischen Gemeinschaft.
Während unsere Eltern, Großeltern und Urgroßeltern noch unter dem Krieg leiden und Opfer bringen mussten, dürfen wir heute unseren europäischen Nachbarn vertrauen. Es ist für meine Generation wie selbstverständlich in den verschiedenen EU-Ländern grenzenlos zu leben, zu arbeiten, zu studieren, mit derselben Währung zu bezahlen und die gleichen Rechte zu genießen. Für uns ist es ebenso normal einen Partner und Freunde im benachbarten Ausland wie im benachbarten Dorf zu haben.
Dass dies und der Frieden in Europa jedoch nicht selbstverständlich ist, hat uns der Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine Anfang 2022 auf schreckliche Weise vor Augen geführt.
Wir müssen uns daher bewusstwerden, wie wertvoll der europäische Einigungsprozess ist. Ungeachtet aller Schwierigkeiten und Differenzen in politischen Einzelfragen bleibt die Zusammenarbeit in der EU und in Europa von unschätzbarem Wert. Vergessen wir bei aller Kritik nicht diese großartige Leistung und das Hauptziel der Gründerväter: das Zusammenwachsen der Völker und die Sicherung des Friedens.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
wahrer Friede -und das hat uns der Blick in die Vergangenheit auf die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich gezeigt- bedarf der Verständigung und der Versöhnung, des gegenseitigen Respekts und gemeinsamer Lösungen. Vorurteile zwischen den Völkern müssen abgebaut werden. Es braucht gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung.
Und es braucht Institutionen wie die EU, die die Zusammenarbeit zwischen Staaten vertiefen, Vertrauen zwischen den Völkern stärken, die gewaltfrei Konflikte lösen und so Frieden nachhaltig sichern können. Das lehrt uns der Blick in die eigene Vergangenheit!
Ja, die Toten – der vergangenen wie der aktuellen Kriege – zeigen uns, wie fragil der Frieden ist.
Machen wir uns heute bewusst, was unsere Eltern, Großeltern und Urgroßeltern erleben mussten.
Machen wir uns bewusst, dass Frieden, Wohlstand, unsere Demokratie und die Europäische Union nicht selbstverständlich sind.
Machen wir uns stark für Verständigung und Versöhnung, für gegenseitigen Respekt und für das Suchen nach gemeinsamen Lösungen.
Machen wir uns heute an diesem Volkstrauertag stark für den Frieden und für ein friedliches Zusammenleben, hier bei uns in Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt.
Vielen Dank.
Totengedenken
„Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker.
Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.
Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.
Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.
Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.
Wir gedenken heute auch derer, die bei uns durch Hass und Gewalt Opfer geworden sind.
Wir gedenken der Opfer von Terrorismus und Extremismus, Antisemitismus und Rassismus in unserem Land.
Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten, und teilen ihren Schmerz.
Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.“